...UND WIE ES DAS TROTZDEM TUN KANN!
Neulich erfuhr ich die Geschichte eines ehemaligen Schulkollegen, der mit 39 unheilbar krank ist. Sein Sohn ist drei Jahre alt. Wir waren nicht befreundet, aber seine Geschichte hat mich tief betroffen gemacht. Ich habe mich hingesetzt und eine Zeit lang geweint.
Für die schönen Dinge sind die meisten von uns dankbar. Aber was ist mit den Hindernissen?
Meine Traurigkeit war Ausdruck von tiefem Mitgefühl, ja. Aber es lag auch mein eigener Schmerz darin. Über Gelegenheiten, die ich nicht genutzt habe. Über Wahrheiten, die ich nicht gesagt habe. Über Liebe, die ich nicht geteilt habe. Über ungelebtes Leben. Es ist ein Schmerz darüber, wie oft ich mich in meinem Leben immer wieder an der Oberfläche aufhalte, in Gedanken verloren gehe, nicht präsent bin. Wo ich aus der Kränkung heraus lebe, nicht genug geliebt und angenommen zu werden. Oder vielmehr eben nicht lebe. Das tut weh. Die Geschichte meines Schulkameraden hat mich daran erinnert, was Leben heißt. Jeden Moment will ich so leben, als wäre es der letzte. Jeden Tag dankbar sein, dass ich am Leben bin, dass ich eine wundervolle Tochter habe, Familie und Freunde, dass wir alle gesund sind und gut leben. Für solche Dinge sind die meisten Menschen dankbar. Aber was ist mit den Hindernissen, den schwierigen Zeiten? Sind wir dafür ebenso dankbar? Oder gehen wir dagegen an?
Das Leben gibt uns viele Aufgaben, so viele, endlose Möglichkeiten, uns weiter zu entwickeln. Immer wieder. Gerade in Krisen rüttelt das Leben an uns und ruft: "Wach auf!!" Steh ein für das was du willst, werde erwachsen und würdig! Übernimm Verantwortung! Warte nicht auf Andere. Warte nicht darauf, dass jemand kommt und dich an die Hand nimmt. Du hast es in dir. Alle Kraft, alle Liebe, all das Leben, das du brauchst. Du sitzt auf einem Schatz, auf einer Kiste voller Gold. Mach sie auf! Trage deine Schätze in die Welt. Dafür bist du hier! Das ist das Beste, das du tun kannst. Werde lebendig! Du selbst. In deiner besten Version. Sei dabei sanft zu dir, aber klar und ehrlich. Werde deine eigene Mutter, umarme, tröste, liebe dieses weinende, einsame Kind in dir. Lass es so lange weinen wie es will. Jede Träne darf sein. Sag: „Ich bin für dich da. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich liebe dich. Ich beschütze dich und passe auf dich auf.“ Diese Sätze sage ich jeden Abend zu meiner Tochter bevor sie einschläft. Damit sie es weiß. Damit sie es jeden Tag aufs Neue weiß und sich geborgen fühlt.
Die Welt wartet darauf, dass wir unsere Schätze in sie hinaustragen.
Es ist an der Zeit, dass wir diese Sätze zu uns selbst sagen. Jeden Tag. Oder am Abend vorm Schlafengehen. Niemand sonst kann das. Wir können nicht darauf warten, dass von irgendwo her noch einmal perfekte Eltern, ein perfekter Partner oder Lehrer auftauchen wird und uns die Arbeit abnimmt, uns frei zu schwimmen. Uns frei schwimmen aus Selbstzweifeln, aus Minderwertigkeitsgefühlen, aus der Angst, nicht angenommen zu werden wenn wir uns wirklich zeigen wie wir sind. Das kann nur jeder für sich selbst machen. Darf das machen. Das ist Leben! Das Leben ist schon da, es passiert jetzt, in diesem Augenblick. Nicht morgen, nicht im Urlaub. Nicht wenn dies oder das in Ordnung gebracht wurde. Sondern jetzt, wo es uns herausfordert. Jetzt, wo Gewisses scheinbar nicht in Ordnung ist .
Die allermeisten von uns haben so Angst vorm Sterben, weil wir nicht richtig leben. Weil wir uns und unsere Gefühle verstecken. In Deckung bleiben, Recht behalten wollen. Nicht zugeben, was uns berührt, verunsichert, wütend macht. Aber was haben wir davon? Es ist ein Leben unter einer Maske, die uns nicht frei atmen lässt. In einer Rüstung, die uns einengt. Es mag sein, dass uns, als wir klein waren und es gebraucht hätten, Niemand so richtig gezeigt hat wie das geht. Wie Leben geht. Aber es ist nicht zu spät. Wir können es lernen. Indem wir JA sagen zum Leben und zu uns selbst! Leben heißt Lernen. Wir haben überhaupt kein Anrecht darauf, glücklich zu sein. Aber wir können es werden, wenn wir den Widerstand gegen die Gegenwart aufgeben. Gegen unsere aktuelle Lebenssituation und uns öffnen für die Lektion, die Chance, die sich uns bietet. Um mehr wir selbst, lebendiger, kraftvoller: einfach mehr Mensch zu werden. Wenn wir uns trauen, mit offenem Herzen durchs Leben zu gehen. Uns trauen, verletzlich zu sein. Berührt zu werden. Echt zu sein. Und wir werden und dürfen Fehler machen. Das ist menschlich. Aber wir können jeden Tag üben, besser zu werden.
Nur wenn wir den Widerstand gegen die Gegenwart aufgeben, können wir glücklich werden.
Auf Bildern war mein Schulkamerad noch schlanker als früher, auf einem saß er im Rollstuhl. Doch immer strahlte etwas durch ihn hindurch. Eine Kraft, eine Präsenz, eine Würde, die mich tief anrührt und ehrfürchtig sein lässt. Davor wie kostbar das Leben ist. Und vor der Frage, wie wir in Erinnerung bleiben wollen.